Das Außerirdische im eigenen Inneren entdecken
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Das Außerirdische im eigenen Inneren entdecken

Um Benjamin Stecher | , |
Author(s)
  • Benjamin Stecher

    Patientenfürsprecher und Autor | Kanada

    Im Alter von 29 Jahren wurde bei Benjamin die Parkinson-Krankheit diagnostiziert. Er verbrachte dann ein paar Jahre damit, die Welt zu bereisen und bei Besuchen in Forschungszentren und pharmazeutischen Unternehmen von den führenden Köpfen in diesem Gebiet so viel wie möglich über die Krankheit zu lernen und zu erfahren, welche Therapien in Aussicht waren. Seitdem engagier... Read More

Ich hatte schon immer eine sehr lebhafte Fantasie. Als Kind starrte ich häufig auf meine Hand und linste tief hinein in die Hautfalten, um dort Welten zu entdecken, die sich mit außerirdischem Leben zusammengetan hatten. Ich stellte mir vor, dass dort ganze Zivilisationen lebten, die nicht wussten, dass ihre gesamte Realität in eine Ritze meiner Haut passte und dass alles, was sie taten, einen Beitrag zu Systemen leistete, die mir die Existenz ermöglichten. Allerdings war mir dabei nicht bewusst, dass ich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war.

In jedem von uns gibt es eine Sinfonie des Lebens, die jedoch viel komplexer und dynamischer ist als alles, was ich mir hätte träumen lassen. Wir sind eine fein austarierte Anordnung von miteinander verbundenen biologischen Systemen, welche aus Kombinationen von nur zwanzig Aminosäuren in einer aufgereihten Doppelhelix aus vier Nukleinsäuren bestehen, die durch uns der gesamten Existenz einen Sinn verleiht.

Carl Sagan ist berühmt für folgende scherzhafte Aussage: „Wir sind für den Kosmos ein Mittel, mit dem er sich selbst ergründet”. Eigentlich ist das aber ein bisschen aufschneiderisch, denn „wir“ sind ja nur ein Produkt der erlernten Mechanismen des Lebens, geprägt durch Äonen von Versuch und Irrtum. Jeder stochastische Schritt vorwärts stärkte unsere Fitness und verlieh uns die Eigenschaften, die es braucht, um weiter zu forschen und mehr über uns selbst und dieses Universum, das wir nun eben bewohnen, zu lernen.

Eine weitere bizarre Eigenart unserer Existenz, die uns von allem anderen uns bekannten Leben unterscheidet, ist, dass wir stets hinterfragen, wie und warum wir entstanden sind. Einige von uns, die sich nicht mit den Geschichten ihrer Zeit zufrieden geben wollten, bohrten und stocherten weiter und erschufen das Werkzeug, das unsere Fähigkeit zur Erforschung des Unbekannten erweiterte – und trieben damit unser Verständnis von allem Existierenden voran.

Eine wesentliche Lektion aus allem, was wir gelernt haben, ist, dass das Leben nie aufhört vor sich hin zu tüfteln und zu basteln. Es ist ein ewiger Prozess der Selbstverbesserung, angetrieben durch endlose Variationen und feinste Veränderungen an unserer genetischen Ausstattung. Meistens haben diese Veränderungen wenig bis keine Wirkung. Mitunter bewirken sie einen Vorteil.

Hin und wieder erlegen uns diese Veränderungen jedoch auch eine Bürde auf, die schrecklich grausam erscheinen kann.

Vor zehn Jahren zeigten sich bei mir erste Symptome. Wahrscheinlich begann schon vor zwanzig oder mehr Jahren etwas falsch zu laufen. Ich bin zwar froh, dass der Abbau allmählich verlaufen ist, werde mir aber des unerbittlichen Fortschreitens immer deutlicher bewusst. Es gibt für mich heute nur noch selten Momente, in denen ich seine Auswirkungen nicht bemerke, denn er beeinträchtigt quasi alles, was ich tue – auch das Tippen der Worte, die Sie hier lesen.

Ich habe viel von dem hier geschrieben, als ich entweder OFF war und versuchte, meine steifen und bradykinetischen Arme und Finger geschickt genug zu bewegen, um die gewünschten Worte zu tippen, oder ON war und versuchte, das unregelmäßige Zucken meines rechten Arms und Beins aufgrund der Dyskinesie im Zaum zu halten. Das ist beängstigend, wenn man überlegt, wie schwierig das wohl in 10 Jahren sein wird. Es ergibt jedoch keinen Sinn, über die Zukunft nachzusinnen, denn jeder heutige Augenblick verlangt mir schon zu viel ab, und es gibt doch noch so viel zu tun.

Wir stehen nun auf der gesammelten Weisheit von zahllosen Generationen unzufriedener Tüftler und sind den Antworten für einige der kniffligsten Puzzles zu dem, was tief in uns falsch läuft, näher als je zuvor. Trotz der nach wie vor gewaltigen Lücke zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir an Wissen brauchen, gibt es guten Grund zu glauben, dass unsere Fortschritte Schlüsselerkenntnisse dazu liefern werden, weshalb unsere Systeme aus dem Ruder laufen, und dass sie uns das Rüstzeug an die Hand geben, um angemessen zu intervenieren.

Von zentraler Bedeutung für dieses Ziel sind Hinweise, die tief in den Bauplänen der mikroskopisch kleinen Molekülmaschinerie verborgen sind, die uns zu dem macht, was wir sind – unser Genom. Im überwiegenden Teil unserer Geschichte wurde das Wissen über das Leben in Form von Geschichten erst mündlich und später schriftlich von Generation zu Generation überliefert. In den letzten Jahrzehnten haben wir jedoch gelernt, dass der tief in allen von uns verschlüsselte Datensatz robuster ist und mehr Erkenntnisse birgt als alles, was wir niedergeschrieben haben.

Von den HOX-Genen, die unsere Entwicklung steuern – indem sie jeder Zelle sagen, wann und wie sie wachsen muss – über das ARC-Gen, das uns durch eine Begegnung mit viraler RNA beschert wurde und das für unsere Fähigkeit, Erinnerungen anzulegen, maßgeblich zu sein scheint, bis hin zu dem ganzen horizontalen Transfer von Genmaterial zwischen unseren Zellen und der Vielzahl von Mikrobiota in uns offenbart unsere neu erworbene Fähigkeit zur Entzifferung des genetischen Lebenscodes uns, was wir wirklich sind, und zeigt uns zugleich neue Ziele auf, die wir vielleicht in unserem langen Kampf mit der Krankheit angehen können.

Wenn es jedoch um das degenerierende menschliche Gehirn geht, müssen sich die von uns entschlüsselten genetischen Treffer erst noch als zielführend erweisen. Heutzutage können wir den Patient*innen maximal sagen, dass sie Gen X haben, und dass es mit Krankheit Y assoziiert ist. Aber abgesehen von der Aufnahme in ein paar experimentelle Studien (falls vorhanden) gibt es für sie und ihre Ärzt*innen nichts, was sie bislang mit dieser Information anfangen können.

Von Zeit zu Zeit bitte ich manche der mir bekannten Biolog*innen, ihre Augen zu schließen und sich auszumalen, was in nur einer von den 37 Billionen Zellen passiert, die uns zu dem machen, was wir sind. Wie Frau Frizzle, die in der Sendung „Der Zauberschulbus“ mit ihrer Klasse auf Reisen geht, bitte ich sie, mich auf eine Tour zu dem mitzunehmen, was sie vor ihrem inneren Auge sehen. Schnell wird dann klar, wie unvollständig dieses Bild ist und wie viel davon wir mit Geschichten darüber füllen, was wir zu wissen meinen. Glücklicherweise werden jedoch rasche Fortschritte gemacht.

Da denke ich zehn Jahre zurück, als ich erstmals merkte, dass irgendetwas in mir nicht stimmt – und an all das, was wir seither über Mosaizismus, Epigenetik, posttranslationale Modifikationen, Pleiotropie, Epistase und vieles mehr gelernt haben. All das verwandelt sich derzeit von etwas völlig Fremdartigem in etwas, was wir allmählich verstehen lernen und was zugleich eine kritische Rolle in unserem kollektiven Kampf gegen die Krankheit spielt.

Was werden wir aus der Sequenzierung von 150.000 Menschen mit Parkinsondiagnose lernen? Welche neuen Erkenntnisse darüber, was bei jeder einzelnen Person falsch läuft, werden wir erlangen? Wie viele Zielmoleküle für medikamentöse Behandlungen werden auftauchen? Wie bei jeder Erkundung des Unbekannten liegt auch hier die Schönheit teils in dem, was wir nicht wissen. Wir wissen zwar, dass die Genetik allein uns nicht dorthin bringen wird, wo wir letztendlich hingelangen wollen, aber wir wissen, dass sie ein Wissensfundament bilden wird, auf dem neue Therapieformen entstehen werden. Und dass wir mit ihr auf dem Weg dorthin die Detailinformationen ergänzen können, die sich uns bislang entziehen – über das Leben und darüber, was es tief in den Falten unserer Haut anstellt.